Von Silvia Wagner | Lesezeit ca. 8:15 Minuten
WENN DAS SCHICKSAL ZUSCHLÄGT, wird Menschen, die bisher mit Leidenschaft gearbeitet haben, oft zusätzlich durch viele Jobabsagen jede Perspektive für die Zukunft zerstört.
Wie ein durchfahrender Güterzug pfeift der eiskalte Wind durch den Hausflur, als Richard die Wohnungstür öffnet. Es sind knapp 10 Meter bis zu seinem Briefkasten, trotzdem glänzen nach ein paar Schritten Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Hände sind so eiskalt und feucht, dass es ihm schwer fällt, den kleinen Briefkastenschlüssel ins Schloss zu stecken. Sein Herz klopft bis zum Hals, als er die Postfachtür öffnet. Es liegt nur ein Brief darin.
Auf dem Rückweg in seine Wohnung kämpfen Zuversicht und Angst in seinem Kopf um die Wette. Als er sich wieder an den Küchentisch setzt, klebt der Briefumschlag regelrecht an seinen feuchten Fingerspitzen. Der Absender ist der kleine Baustoffhändler gleich um die Ecke, bei dem er sich schon mehrmals um eine Arbeitsstelle beworben hat. Dieses Mal hat seine Qualifikation genau zu der Stellenausschreibung gepasst und er wurde sogar zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Es lief auch gut, schießt es ihm durch den Kopf, dieses Mal klappt es bestimmt!
»Schon in seiner Studienzeit wusste Richard,
dass Restaurator sein Traumberuf war.«
Vorsichtig schneidet er mit dem Messer die Umschlagkante entlang. Er zögert kurz; oder doch nicht? Ihm fällt das schräge Lächeln des Personalchefs wieder ein, als dieser meinte: „Sie passen von Ihrem Qualifikationsprofil wirklich gut, aber wahrscheinlich können wir Sie uns gar nicht leisten. Aber keine Sorge, wir melden uns.“ Richard gefiel der humorvolle Chef. „Habe ich das Lachen vielleicht doch falsch aufgefasst?“ Langsam klappt er den Brief auf. An der Länge des Textes erkennt er sofort den Inhalt. Kurz und automatisch. „Es tut uns leid, aber leider haben wir uns für einen anderen Bewerber entschieden.“ Weiter liest er nicht. Wieder eine Absage, die 167ste. Erschöpft und entmutigt geht er ins Wohnzimmer, lässt sich in seinen Fernsehsessel fallen. Dunkle Gedanken von Sinn- und Hoffnungslosigkeit breiten sich aus.
Wer die meisten Jahre im gleichen Unternehmen gearbeitet hat, dem fällt Neuorientierung schwer
Richard (Name von der Redaktion geändert!) war 30 Jahre lang Restaurator. Er war zeitlebens glücklicher Junggeselle, denn Zeit für eine Frau fand er immer nur kurz. „Später mal, es ist ja noch Zeit“, antwortete er auf Fragen nach Familienplanung. Viele Monate des Jahres war er unterwegs, in Kirchen und historischen Gebäuden in Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich. Im Sommer draußen an den Fassaden, im Winter drinnen unter hohen Deckenfresken. In den kurzen Zeitspannen dazwischen wohnte er am Hof seiner Eltern. Er war fit und braungebrannt.
Ob Kirchen, Kapellen oder andere geschichtsträchtige Gebäude, mit seinem historischen Wissen und seinem handwerklichen Geschick verhalf er gekonnt alten Bauwerken zu ihrem ursprünglichen Glanz. Schon in seiner Studienzeit wusste Richard, dass Restaurator sein Traumberuf war. Er kannte sich in allen Epochen gut aus, aber die leichten und von Anmut geprägten Formen des Rokoko hatten es ihm besonders angetan. Und dafür wurde er auch immer wieder als Experte herangezogen.
Bei manchen Projekten arbeitete er mit anderen Kollegen zusammen und ein paar davon hatten sich im Laufe der Jahre zu guten Freunden entwickelt, doch meistens genoss er die stillen Stunden des Alleinseins. Richard arbeitete gern in und auf den alten Gebäuden, und Höhenangst hatte er nie. Wenn er früher manchmal auf dem Gerüst einer Kirche stand, hielt er kurz inne und ließ langsam seinen Blick über die Landschaft schweifen. In solchen Augenblicken fühlte er sich privilegiert. „Es ist der schönste Arbeitsplatz der Welt, nur Wenige dürfen die Welt von hier aus betrachten“, dachte er dann zufrieden. Richard liebte seine Arbeit und er dachte immer, dass er diese bis zur Pension ausüben wird und dann den Hof der Eltern renovieren möchte, um dort seinen Ruhestand zu verbringen. Einmal irgend etwas anderes zu machen, daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet.
»Einmal irgend etwas anderes zu machen,
daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet.«
Und plötzlich kam alles anders
Doch dann kam der 6. Oktober 2014. Kurz vor Arbeitsschluss wollte er noch eine begonnene Stuckarbeit fertigstellen und kletterte nochmal wendig am Gerüst an der Stiftskirche hoch. Plötzlich ein lautes Krachen. Eine Gerüststange hatte sich gelöst und riss Richard mit all seinen Träumen und Plänen fast acht Meter in die Tiefe. Seine Erinnerungen an diesen Tag hatten sich in ein schwarzes Loch verkrochen.
Als er im Krankenhaus aufwachte, sagten ihm die Ärzte, er hätte wahnsinniges Glück gehabt, dass die Kollegen zufällig noch auf der Baustelle waren. Mehrere Wirbelbrüche, multipler Beckenbruch, Milzriss, Nierenquetschung, innere Blutungen, viele Prellungen und eine lange Schnittwunde im Gesicht standen auf seinem Krankenblatt. Vier Wochen lang bangten die Ärzte um sein Leben. Sie hatten ihn in ein künstliches Koma versetzt, und es war lange Zeit nicht sicher, ob er es schaffen würde. Aber er war dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Als er aufwachte, musste er wieder neu gehen lernen und der Arzt prophezeite ihm, dass er wohl ein Leben lang Schmerzen haben würde.
Mittlerweile sind über acht Jahre vergangen. Richard ist 56 und sein Blick in den Spiegel erinnert ihn immer wieder an besagten Schicksalstag. Seine Erscheinung hat sich vom junggebliebenen Endvierziger in einen ausgemergelten alten Mann verwandelt. Seine Träume waren zerplatzt wie eine Seifenblase. Gleich nach dem Unfall und der Reha lebte er bei seinen Eltern auf dem Hof. Aber eigentlich hätten diese selbst Hilfe gebraucht. Denn seit sein Vater an Demenz erkrankt war, konnten sie den Hof nicht mehr bewirtschaften. Seine Mutter kümmerte sich fünf Jahre lang voller Hingabe um ihre beiden Männer, aber dann starb sie an einem Herzinfarkt. Schweren Herzens traf Richard den Entschluss, seinen ehemaligen Pensionstraum zu verkaufen und seinem Vater einen Platz im Seniorenheim zu suchen. Er war weder körperlich noch psychisch dazu in der Lage, sich um den Hof und seinen Vater zu kümmern.
Seitdem wohnt er allein in einer Zweizimmer-Wohnung. Einmal pro Woche besucht er seinen Vater im Heim, liest ihm vor und erzählt von der Nachbarschaft, obwohl ihn dieser kaum noch erkennt. Richard kommt mit seinen eigenen Schmerzen mittlerweile ganz gut klar. Es ist zwar ein ständiges Auf und Ab, aber er versucht mit aller Kraft, wieder Arbeit zu finden und nicht aufzugeben. Er fühlt sich noch nicht reif, um für den Rest seines Lebens zuhause vor dem Fernseher zu sitzen. Sein Antrag auf Invaliditätspension ist schon zweimal abgelehnt worden. Aber eigentlich wollte er den Antrag gar nicht stellen, das hat ihm nur sein Arzt geraten. Nein, er möchte noch was Sinnvolles tun und jemanden mit seinem Wissen und seiner Erfahrung unterstützen. Mit eisernem Willen trainiert er täglich auf dem Ergometer und zweimal pro Woche fährt er mit dem Auto zur 15 Kilometer entfernten Physiotherapie. Sein Zustand verbessert sich, aber eben nur sehr langsam. Er nimmt auch regelmäßig psychologische Beratung in Anspruch, denn das Reden hilft ihm sehr. Besonders, wenn wieder die schlimmen Gedanken über Wert- und Sinnlosigkeit auftauchen.
Infobox
Betriebe lassen viel menschliches Leistungspotenzial brach liegen
Im Handbuch zum Generationenmanagement des AMS findet man folgendes Resümee: „Das Leistungspotenzial älterer Mitarbeiter wäre und ist bei alternsgerechten Arbeitsanforderungen und neuen
Herausforderungen sehr hoch: Großes Verantwortungsgefühl für den Betrieb, soziale Kompetenz, Selbstständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Erfahrung über komplexe Abläufe werden von der
älteren Generation mitunter sogar besser erfüllt als von der jüngeren. Viele Betriebe lassen also menschliches Leistungspotenzial brach liegen, wenn sie ältere Mitarbeiter vor keine neuen
Herausforderungen stellen oder ihnen Aufgaben mit wenig sozialem Kontakt geben, ihr Wissen und ihre Erfahrung für andere im Wissensmanagementprozess nicht abholen.“
AMS-Forschungsnetzwerk.at |
Aber davon soll keiner was merken. Wenn er manchmal im Gasthaus mit seinen alten Arbeitskollegen bei einem Bier zusammensitzt, witzelt er sogar gerne: „Ich krieg das mit einer Arbeit schon wieder hin, da können noch so viele Absagen kommen. Ich gehöre doch noch nicht zum alten Eisen. Ich weiß doch wohl eine ganze Menge mehr, als so mancher junge Hüpfer. Mein ganzes Leben habe ich mit alten Gebäuden, Baumaterial und Handwerk verbracht, irgendjemand wird das doch noch zu schätzen wissen.“