Kulturelles Erbe der Jenischen

Von Sonja Raab | Lesezeit ca. 6:30 Minuten

UNSER NEID AUFS FREIE, WILDE LEBEN: Jenisch.

Ein „zuagrasta“, inzwischen pensionierter, Lehrer hat es sich zur gar nicht einfachen Aufgabe gemacht, die vergessene Sprache eines ehemals fahrenden Volkes in Loosdorf und Umgebung zu bewahren.

 

Einige Männer sitzen in einem Wirtshaus in Sitzenthal – einem Ortsteil von Loosdorf bei Melk – um den Stammtisch und spielen Karten. Darunter Pepi Fischer, ein älterer Jenischer. Am Nebentisch sitzt Artis Franz Jansky-Winkel. Ein gebürtiger St.Pöltner, der sich schon immer mehr für diejenigen interessierte, denen es nicht so gut ging. Jene, die nicht so laut waren, die nicht mit den Ellenbogen durchsetzten, was sie wollten. Er beschäftigt sich gerne mit „Nebensätzen, Nebenmenschen und Nebenleben“, sagt er. Menschen, die sich nicht nur über Beruf und Leistung identifizieren, sondern Freiheit und Tiefgang leben.

 

"Artis" Franz Jansky-Winkel mit seinem neuen Buch über Jenische
© Sonja Raab
Jenische wurden von den Nazis verfolgt, gefoltert und getötet
© "Artis" Franz Jansky-Winkel

Jenisch sprechen – oder besser nicht?

Jenische wurden genauso wie andere Minderheiten verfolgt und vernichtet,

dokumentiert "Artis" Franz Jansky-Winkel in seinem Buch.


 

Immer wieder schiebt also dieser Pepi Fischer einen Bierzettel mit Notizen zu Artis hinüber. Manchmal mit nur einem Wort, das vom Jenischen ins Deutsche übersetzt ist. Manchmal einen größeren Zettel mit Teilen seiner Lebensgeschichte oder Skizzen. Geduldig sammelt Artis die vielen Zettelchen. Und nicht alle in Sitzenthal sind mit diesem seltsamen Vorgehen im Wirtshaus einverstanden. Es gab sogar Drohungen gegen Artis. Er würde die Sprache der Jenischen „verraten“, wird ihm vorgeworfen. „Es gibt drei Haltungen, die die Jenischen mir gegenüber zeigen: Ablehnung, Vertrauen oder Offenheit“, erzählt er. „Die Jenischen, die etwas preisgeben, müssen sich unter Umständen zu Hause dann schimpfen lassen.“

 

»Man weiß nicht, woher sie kommen.

Aber es genügt doch, dass sie sichals Volk fühlen, frei sein wollen,

mit Natur und Umgebung im Einklang, ohne damit reich werden zu wollen.«

 

In Sitzenthal haben die alten Jenischen

den Winter in zusammengezimmerten kleinen Hütten verbracht.

Auszug aus den Notizen des 1999 verstorbenen Jenischen Josef Fischer aus Loosdorf: „Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts regierten die Habsburger in Österreich. Da kamen von sämtlichen Nachbarländern gestrandete, durch irgendein Unglück verarmte Menschen, die kein Zuhause mehr hatten. Sie gingen auf Wanderschaft, einzeln, aber auch als Familie. Manche wanderten als Handwerker, Kesselschmiede, Pfannenflicker, Korbflechter, Bettler, Schausteller, Wahrsager, Tagediebe, Seiltänzer und Bärentreiber herum, oder hatten einen kleinen Wanderzirkus. Sie zogen Karren, vor die Hunde gespannt waren oder schoben Handwagerl durch die Gegend, bettelnd, andere boten ihre Erzeugnisse an. Erst waren es hauptsächlich Österreicher, später kamen Kroaten, Böhmen, Slowaken, Juden, Sinti, Roma, usw. So kamen sie bei den ihnen bekannten Lagerplätzen zusammen, Einzelgänger und Familien mischten sich durcheinander, gründeten wieder weitere Familien und schließlich wurde dieses Volk so groß, dass Maria Theresia sie registrieren ließ. Alle, die keine Vorstrafen hatten, konnten oder mussten nun einen Gewerbeschein einreichen, bekamen ein Wandergewerbe oder ein Hausierbuch und mussten Steuern zahlen. Auch eine Schulpflicht gab es für sie, in einer Wanderschule. Vom Schuhband bis zum sprichwörtlichen Flugzeug wurde mit allem gehandelt. Doch Anfang des 19. Jahrhunderts protestierten die kaufmännischen Vereinigungen gegen die herumziehenden Kaufleute und so wurde das letzte Hausierbuch bewilligt. Hitler ließ die Jenischen schließlich verfolgen und genauso wie Juden, Sinti oder Roma vergasen.“

 

Jenische Familie mit Pferd und Wagen
© "Artis" Franz Jansky-Winkel
Zeichnung eines Wohnwagens der Jenischen
© "Artis" Franz Jansky-Winkel

 

In der alten Chronik von Loosdorf findet man den Satz: „Leider gibt es bei uns auch Zigeuner.“

Artis bleibt hartnäckig und lässt sich auch durch Drohungen nicht einschüchtern. 1991 veröffentlicht er sein erstes Buch „Noppi Gadschi – Jenisch Baaln“ im Eigenverlag. Die Reaktionen sind überwältigend. Ganz rasch werden im Gasthaus in Loosdorf hundert Stück des Buchs verkauft. Fernsehen, Radio, Zeitungen, Studenten und Schriftstellerinnen interessieren sich für diese fremdartige Sprache mitten in Österreich. Diplomarbeiten werden geschrieben. Jenische aus allen Teilen Europas melden sich und ergänzen Sätze und Wörter, bedanken sich für die Veröffentlichung. Simone Schönett vom jenischen Kulturverein in Tirol, sowie Romedius Mungenast, ein Ehrenprofessor und Autor jenischer Gedichte und Geschichten melden sich. Sogar ein Weihbischof gewährt Audienz, ein jenischer Polizist zeigt Artis Dokumente aus Auschwitz, die belegen, dass die jenische Ahnin im KZ war.

 

»Man hat die Kinder der Jenischen

aus den Schulen geholt und in Heime gesteckt, weil man sie bessern oder vor dem Unglück schützen wollte.«

 

Kontakte und Freundschaften entstehen unter anderem mit dem Autoren Thomas Sautner, der die Romane „Fuchserde“ oder „Die Älteste“ zum Thema geschrieben hat. Artis beschließt, eine Ausstellung und Lesung in Loosdorf zu veranstalten und es kommen Jenische aus anderen Bundesländern, die auch Jenisch, aber „anders Jenisch“ sprechen. „Es entstand ein seltsamer Wettbewerb: Wer ist der Jenischste von allen?“, lacht Artis. Mit der Zeit sammelt sich so viel Material, dass er beschließt, ein zweites Buch zu schreiben, beziehungsweise das erste Buch zu ergänzen und zu überarbeiten. „Noppi Gadschi – Jenisch Baaln ZWISI“ entsteht. Übersetzt: „Nicht Nichtjenisch, sondern Jenisch sprechen 2.“

 

"Die Welt ist ein Gschutztnkandi!"

Wenn man mitten in Österreich plötzlich die Welt nicht mehr versteht, dann ist man vielleicht in Loosdorf gelandet. Dort lagerten in alten Zeiten die fahrenden Völker und entwickelten eine eigene Sprache, die fast vergessen nun wieder einen Aufschwung erlebt. Das Büchlein von Jansky-Winkel ist nicht nur Jenisch-Wörterbuch, sondern es erzählt Geschichten und Gedichte der Jenischen, es finden sich Skizzen und Urkunden, Dokumente und Erinnerungen. Ein Schatz wurde hier geborgen. Wer wissen möchte, was ein „Gschutztnkandi“ ist, kommt entweder aus Sitzenthal/ Loosdorf, oder sollte unbedingt dieses Buch kaufen.

"Artis" Franz Jansky-Winkel
"Noppi Gadschi – Jenisch baaln Zwisi. Jenisch in Loosdorf."
68 Seiten, Eigenverlag, erhältlich am Gemeindeamt Loosdorf
📞 02754 6384-0


Leise Reise

Lesung von "Artis" Franz Jansky-Winkel am 13. April 2023 um 19 Uhr in der

Bücherei Loosdorf

 

Jugendliche reden heute bewusst jenisch. Es ist ihr Trumpf, damit „Fremde“ sie nicht verstehen.

„Mit jeder Generation die stirbt, stirbt auch deren Sprache ein Stück weit weg“, meint Artis. „Ich wollte diese Besonderheit festhalten“. Mit dem großen Interesse hat er gar nicht gerechnet. Mittlerweile hat er Hunderte von Büchern verkauft und die neue Ausgabe Teil 2 ist nun wieder am Gemeindeamt in Loosdorf erhältlich. Am Ende unseres Gesprächs reden wir über die Verfolgung der fahrenden Völker. Über den Stempel, den man ihnen aufdrückt, die Ungerechtigkeit, sie als Gauner, Vagabunden, Diebe und Unangepasste zu bezeichnen, ihre Kinder in Heime zu stecken, den fahrenden Eltern nicht zuzugestehen, sie auf ihre Weise erziehen zu können. „Vielleicht ist es unser Neid auf das freie, wilde Leben“, stellen wir fest. „Temporary dwellings prohibited by Order“ (kurzzeitiges Aufhalten behördlich verboten) steht auf Schildern in Irland.

Dieser Beitrag erschien erstmals im momag

Info über den Autor:

"Artis" Franz Jansky-Winkel, 3382 Loosdorf. artis.fjw@gmx.net

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