Von Michaela Auer | Lesezeit ca. 9:30 Minuten

LEGASTHENIE UND DYSKALKULIE. Große Herausforderungen für Kinder und Eltern, die aber gut dabei unterstützbar sind. Es gibt verschiedene Ansätze, um gut und freudvoll damit umgehen zu lernen, wie wir im Gespräch mit zwei Profis aus dem Mostviertel herausfinden durften.
Wie kann sich eine Legasthenie oder Dyskalkulie äußern?
Irene Graf: Kommt es bei offensichtlich intelligenten Kindern völlig unerwartet zu Schwierigkeiten beim Erlernen des Schreibens und/oder Lesens, so sollte man eine mögliche Legasthenie in Betracht ziehen, Rechenprobleme könnten durch eine Dyskalkulie verursacht sein. Eine klassische Situation, wie sie mir immer wieder von Eltern betroffener Kinder berichtet wird: „Sophie sitzt seit über einer Stunde bei der Deutsch-Hausübung. Sie versucht, Sätze mit den aktuellen Lernwörtern aufs Papier zu bringen. Immer wieder lässt sie Buchstaben aus, verwechselt oder verdreht sie.“ Die einfachsten Wörter schreibt Sophie ständig falsch, obwohl ihre Mama sie täglich mit ihr übt. Pausenlos muss radiert werden, Sophies Frust steigt, ihre Mama weiß nicht mehr weiter. Mit Geduld und Verständnis versucht sie, ihre Tochter zum Weiterarbeiten zu überreden. Diese kann jedoch nicht stillsitzen und sucht unentwegt nach Gründen für eine Unterbrechung, jede Kleinigkeit lenkt sie von der Hausübung ab. Schließlich ist ihre Mama mit den Nerven am Ende. Sophie kann sich stundenlang und intensiv mit ihrem Lieblingsthema Astronomie beschäftigen und scheitert an acht einfachen Sätzen in Deutsch. „Ich bin sowieso zu blöd zum Schreiben“, stößt das verzweifelte Mädchen unter Tränen hervor, schleudert den Bleistift auf den Boden und läuft aus dem Zimmer.
Silke Plank: Bei Legasthenie wird auch von einer Lese- oder Rechtschreib-Störung (LRS) gesprochen. Es bestehen ausgeprägte und nachhaltige Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens oder des Rechtschreibens. Unter Dyskalkulie bzw. Rechenstörung versteht man eine Beeinträchtigung der mathematischen Basis-Kompetenzen. Betroffene haben erhebliche Probleme im Verständnis von Mengen und Zahlen, weshalb vor allem die Fertigkeiten bei den Grundrechnungsarten beeinträchtigt sind. Zur Diagnose LRS oder Dyskalkulie kommt es, wenn schriftsprachliche oder mathematische Fähigkeiten deutlich unter dem Niveau liegen, welches aufgrund des Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten ist. Es ist keineswegs eine Folge von mangelnder Übung oder Intelligenz. Im Alltag bedeutet dies, dass betroffene Kinder trotz Förderung und intensiven Übens auffallende Probleme haben, den Schulstoff zu bewältigen.
»Sophie kann sich stundenlang und intensiv mit ihrem Lieblingsthema
Astronomie beschäftigen und scheitert
an acht einfachen Sätzen in Deutsch.«
Irene Graf: Legasthenie und Dyskalkulie sind laut pädagogischer Definition die Folge von nicht ausreichend geschärften Sinneswahrnehmungen im Bereich der Optik, Akustik, Raumwahrnehmung und/oder des Körperschemas. Die betroffenen Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Unterschiede zu sehen bzw. zu hören, können sich Gesehenes oder Gehörtes nicht merken oder die Links/Rechts-Unterscheidung gelingt nicht. Durch diese differente Wahrnehmung kommt es beim Schreiben, Lesen oder Rechnen zu zeitweiser Unaufmerksamkeit, die wiederum Wahrnehmungsfehler zur Folge hat. Beim Lesen kann sich das zum Beispiel so äußern: Wörter oder Wortteile werden ausgelassen, ersetzt oder hinzugefügt, Buchstaben und Wörter vertauscht, das Lesetempo ist stockend und langsam. Beim Schreiben wird möglicherweise das gleiche Wort immer wieder unterschiedlich geschrieben und beim Rechnen werden häufig Zahlen verdreht.
Was sind bekannte Ursachen dieser Herausforderungen?
Irene Graf: Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass eine Legasthenie zu einem großen Teil genetisch bedingt ist. Auch positive und negative Einflüsse aus der Umwelt bestimmen mit, wie sich eine Legasthenie auf das Leben des Menschen auswirkt. Bei der Dyskalkulie liegen die Gründe noch weitgehend im Ungewissen, weil sich die Forschung noch nicht sehr lange mit dieser Problematik beschäftigt. Man nimmt aber ähnliche Ursachen wie bei der Legasthenie an.
Silke Plank: Ein weiterer Ansatz sind neurobiologische Einflussfaktoren. Studien mit bildgebenden Verfahren belegen Veränderungen in der linken Hemisphäre des Gehirns bei Betroffenen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Dort ist der Sitz des Systems für die Verarbeitung orthografischer, phonologischer und semantisch-lexikaler Merkmale von Wörtern.
»Die frühe Erkennung hat große Bedeutung,
um negative Auswirkungen auf
die Psyche oder den Erfolg in der Schule zu vermeiden.«
Wie viele Kinder in Österreich sind betroffen?
Silke Plank: Etwa vier bis acht Prozent der Schulkinder sind betroffen. Die frühe Erkennung hat eine große Bedeutung, um Kindern gezielt zu helfen und negative Auswirkungen auf die Psyche oder den Erfolg in der Schule zu vermeiden.
An wen kann man sich wenden?
Irene Graf: Bereits im Vorschulalter können einige Symptome auftauchen, meist wird eine Legasthenie zwischen dem zweiten und dem vierten Volksschuljahr „entdeckt“, manchmal auch später. Haben Eltern den Verdacht, dass ihr Kind betroffen sein könnte, sollte der Klassenlehrer die erste Ansprechperson sein. Wird der Verdacht bestätigt, sollte man sich rasch Hilfe suchen.
Silke Plank: Austestungen können durch Schulpsychologen durchgeführt werden oder durch eine klinische Gesundheitspsychologin. Legasthenie- und Dyskalkulietherapeuten und -trainer können mittels standardisierter Tests und Fehleranalysen ein Risiko für LRS oder Dyskalkulie feststellen, jedoch keine Diagnose stellen.
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Zur Person
Irene Graf ist diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin in Amstetten. Zuvor war die Mittelschulpädagogin für die Fächer Deutsch, Musikerziehung und Informatik als Nachhilfelehrerin und IT-Trainerin im Bereich der Lehrerfortbildung tätig.
Silke Plank ist Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin in Rosenau/Sonntagberg. Die Volksschullehrerin ist außerdem Gesundheitspädagogin für Kinder. Unterstützt in ihrer Arbeit
wird sie durch die zertifizierte Therapiebegleithündin "Lotti".
SILKE PLANK / LÖWE-TRAINING
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Wie geht man dann ans Thema heran, wie kann man sich so eine Stunde bei euch vorstellen?
Silke Plank: Bei einem individuell abgestimmten Training kommen Spiele und Materialien zum Einsatz, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist. Interessen und Stärken werden bewusst gefördert. Legasthenie- oder Dyskalkulietraining ist nicht mit einer herkömmlichen schulischen Nachhilfe zu vergleichen, da nicht primär der aktuelle Schulstoff behandelt wird. Nach Absprache mit dem Kind und den Eltern ist meine Therapiehündin Lotti dabei. Die Unterstützung durch den Vierbeiner kann nicht nur für zusätzliche Lernmotivation sorgen, sondern auch das Selbstbewusstsein des Kindes positiv beeinflussen. Ein leseschwaches Kind vermeidet das laute Vorlesen meist, doch wenn Hündin Lotti als Zuhörerin fungiert, fällt es leichter.
Irene Graf: Jedes Kind hat seine eigene, „individuelle“ Legasthenie. Je nach Schweregrad, Veranlagung und Erkennungszeitpunkt verläuft diese auch anders. Deshalb ist auch ein speziell abgestimmtes Einzeltraining erforderlich. An erster Stelle steht, das Kind zu motivieren und ihm zu zeigen, dass Lernen Spaß machen kann. Mit positiven Lernerfahrungen soll sein Selbstvertrauen wieder gestärkt werden. Ich versuche, die persönlichen Interessen eines Kindes bestmöglich miteinzubeziehen. So werden zum Beispiel bei einem Harry Potter-Fan Harry, Hermine und Ron immer wieder in Rätseln und auf Arbeitsblättern auftauchen, während bei einem Tierliebhaber seine Lieblingstiere spielerisch in Texte und Rechenaufgaben eingebunden werden. Mit Übungen und Spielen steigern wir die Aufmerksamkeit und schärfen nach Bedarf die betroffenen Sinneswahrnehmungen, danach unterstütze ich das Kind individuell beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Gerne können die Eltern auch ein paar Minuten vor Ende der Trainingseinheit dazukommen, um die Fortschritte und Inhalte der Stunde zu besprechen oder sich Tipps für das Üben zu Hause zu holen. Auf Wunsch der Eltern werden Klassenlehrer kontaktiert, um eine für das Kind möglichst angenehme Atmosphäre zu schaffen und gemeinsame Förderpläne zu besprechen. Verständnisvolle Eltern und Lehrpersonen können betroffenen Kindern den Alltag maßgeblich erleichtern.
"Ein leseschwaches Kind vermeidet das laute Vorlesen meist, doch wenn Hündin Lotti als Zuhörerin fungiert, fällt es leichter."
Wie äußern sich Erfolge?
Irene Graf: Für mich ist jedes Kind eine Erfolgsgeschichte, egal in welchem Tempo es seinen Weg geht. Oft bin ich nur ein kleiner Teil der Geschichte, die Antriebskraft von außen, die Möglichkeiten aufzeigt. Eltern und natürlich die Kinder selber bringen den größten Beitrag zum Gelingen. Ich will vor allem, dass jedes Kind wieder an sich glaubt und Mut hat, es zu schaffen.
Was braucht die Bildungslandschaft?
Irene Graf: Aktuell gibt es beides: Krampf und gute Zusammenarbeit. Es gibt leider auch Direktoren, die keine offenen Ohren für das Thema Legasthenie oder Dyskalkulie haben. Oft suchen Lehrer Kontakt, die Unterstützung zu diesen Themen suchen. Oft ist es ein Kampf für die Eltern, damit sie Akzeptanz dafür erreichen, dass das Kind Unterstützung braucht. Es gibt leider nur Richtlinien in Österreich und keine Gesetze. Ich würde mir hier viel mehr Klarheit für diese Themen wünschen.
Dieser Beitrag erschien erstmals im momag
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Buchtipps
Ratgeber Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher von Gerd Schulte-Körne, Katharina Galuschka, Hogrefe Verlag, ISBN:
9783801727222.
Dyskalkulie: Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute. Von Silvia Pixner, ISBN: 978-3-8248-0843-4