Hochsensibilität bei Kindern und Eltern

Von Silvia Wagner | Lesezeit ca. 12:12 Minuten

„AUCH SCHMETTERLINGE HABEN MÜTTER“.

Hochsensibilität ist keine Störung oder Krankheit, sondern ein vererbtes Persönlichkeitsmerkmal, das einer Studie zufolge bei 20 bis 35 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 19 Jahren auftritt.

 

Hochsensibilität - Serie - Teil 2
© Silvia Wagner

 

Wenn nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter hochsensibel ist, kann das eine große Herausforderung für beide sein. Es kann aber auch der Auftakt für eine ganz besondere Beziehung sein. Eine Studie der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron belegt auch, dass Kinder, die unter förderlichen und stimmigen Bedingungen aufwachsen, die Hochsensibilität als wertvolle Ressource und Begabung erleben können.

 

Eine hochsensible Mutter und ihr hochsensibles Kind

Erschöpft lehnt Julia ihre heiße Stirn an die kühlende Wand im Obergeschoss ihres kleinen Einfamilienhauses, nachdem sie es endlich gewagt hat, die Tür zu Maries Zimmer zu schließen. Noch einmal kurz horchen, und dann gleich ins Bett, damit ich wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekomme. Ein flüchtiger Blick auf ihre Armbanduhr zeigt 4.45 Uhr. Oh Mann, diese Feier gestern, ich wusste, dass es wieder so eine kurze Nacht werden würde. Julia fallen fast die Augen zu, als sie sich auf Zehenspitzen zum gemeinsamen Ehebett bewegt. In 15 Minuten wird der Wecker ihres Mannes Manuel zur Frühschicht klingeln. Behutsam kriecht sie unter ihre Bettdecke. Ein schier unerträglicher Schmerz in der rechten Seite ihres Kopfes lässt sie zusammenzucken. Oh nein, bitte nicht jetzt auch noch eine Migräneattacke. Manuel ist bereits wach: „Schläft sie jetzt?“, fragt er besorgt. – „Ja, ich hoffe, dass sie jetzt endlich ein bisschen zur Ruhe kommt, denn ich glaube mein Kopf platzt. Marie war so überdreht von gestern, das war alles zu viel für sie“, flüstert sie, während ihr lautlos ein paar Tränen über die erhitzten Wangen laufen. „Ja, ich weiß, aber auch für dich war alles zu viel, mein Schatz. Ich hoffe, dass du ein bisschen schlafen kannst. Ich komme heute früher nach Hause, dann löse ich dich ab.“ Er küsst sie zum Abschied und verlässt das Zimmer. Für Manuel ist es nicht das erste Mal, dass seine Frau nach einem anstrengenden Tag solche Symptome zeigt.

 

Übererregung und emotionale Intensität

Julia fallen sofort die Augen zu. Während sie langsam in einen seichten Schlaf dämmert, tauchen im Kopf die tausend Bilder und Gedanken des vergangenen Tages wieder auf und kreisen um die Wette. Sofort erscheint der alte Forstgasthof des kleinen 500-Seelen-Dorfes in der Steiermark, in dem schon seit jeher die Familienfeiern ihrer Großeltern stattfanden. Seit über 10 Jahren war sie nicht mehr dort gewesen, aber die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Der 80. Geburtstag ihrer geliebten Großmutter war der Beweggrund, über ihren Schatten zu springen und nach so langer Zeit ihrer Verwandtschaft wieder einmal gegenüberzutreten.

 

»Sei doch nicht immer so empfindlich.«
Diesen Satz bekommen viele hochsensible Personen
schon als Kind zu hören.

 

Hochsensibilität - Serie - Teil 2
© pixabay

 

Diesmal war es anders, denn sie war ja nicht alleine. Manuel und Marie waren an ihrer Seite. Wie in sanften Nebel gehüllt schleichen über 50 geladene Gäste – Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen mit Partnern und lärmenden Kindern, neugierigen Fragen und misstrauischen Blicken – durch die verschwommene Traumlandschaft. Ausgestopfte Jagdtrophäen starren sie von den Wänden des kleinen Speisesaals wie vor Neugier platzend an.

 

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Meist schon als Baby erkennbar.

Manche Babys zeigen schon von Geburt an ihre erhöhte Sensibilität auf Umweltreize und die damit einhergehende intensivere Verarbeitung. Es geht ihnen offenbar besser, wenn sie weniger Stimulation um sich haben. In diesem Fall ist es für Eltern wichtig zu erkennen – oder von geschulten Menschen gesagt zu bekommen –, dass ihr Kind möglicherweise hochsensibel ist. Wissen sie darüber Bescheid, werden sie weniger in Frage stellen, weniger Sorge haben, etwas falsch zu machen und können somit leichter eine sichere Bindung zu ihrem Kind entwickeln.

Mögliche Anzeichen:

➥ Das Baby sucht ständig Körperkontakt und will dauernd getragen werden (sonst schreit es).

➥ Es erschrickt sehr leicht, ist sehr einfühlsam.

➥ Es kann nach einem aufregenden Tag nur schwer einschlafen.

➥ Es registriert Details und plagt sich mit Veränderungen.

Quelle:

🌐 www.hochsensitiv.net/
hs-kinder

Die meisten Leute kennt sie gar nicht mehr und bei den bekannten Gesichtern hatte sie schon als Kind das Gefühl, sie wäre eine Außenseiterin. Auch der Alleinunterhalter, der sich mit Keyboard und abgedroschenen Schlagern um die Illusion einer heiteren Stimmung bemüht, besteht auf seinem Platz in Julias Halbtraum. Im verschwommenen Licht betritt sie mit Marie und Manuel den Saal. Ein eiskalter, von unterdrückter Wut, Abneigung und Unverständnis geschwängerter Luftzug dringt in fast jede Faser ihres Körpers. Sie will fliehen, doch Manuels Hand auf ihrem Rücken schiebt sie sanft mit Marie auf dem Arm vorwärts in Richtung Jubilarin. Sie spürt stechende Blicke und hört förmlich die Gedanken der Anwesenden: „Seht mal, wer sich da in unsere Mitte wagt. Die übersensible Julia, die sich zu gut war, um mit uns ihre Hochzeit zu feiern.“

 

Seit mehr als 10 Jahren wechselten die meisten Anwesenden deshalb kein Wort mehr mit Julia. Sie wollten damals eine kleine Hochzeitsfeier, nur im Kreise ihrer und Manuels Eltern, mit Lampions und Kerzen im Garten bei einem gemütlichen Essen und einem Gläschen Wein und Musik aus der Jukebox. Ohne lärmende Kinderschar, Verwandtengetue, ohne endlos kaugummiähnlichen Smalltalks, ohne großen Lärm und nur mit einer kleinen Trauungszeremonie. Julia erinnert sich noch an die beleidigten und angewiderten Gesichter ihrer Cousinen, als sie erklärte, dass der Lärm, lange Nächte und Alkohol bei ihr jedes Mal massive Migräneattacken auslösen, die sie den ganzen nächsten Tag in einem dunklen Raum ans Bett fesseln würden. Sie meinten, das sei nur eine Ausrede, aber sie wäre ja schon immer zimperlich und arrogant gewesen.

 


Unruhig wälzt sich Julia im Schlaf hin und her, während das Gedankenkarussell in die nächste Runde startet. In Gedanken erscheint ihre Großmutter, wie sie ihr gratuliert. Julias Oma war sichtlich gerührt vom Geschenk, nahm sie in den Arm und drückte Marie einen sanften Kuss auf die blonden Locken. Die Großmutter war eine der Wenigen gewesen, die Julias Sensibilität nie verurteilt hatte oder sie dafür geschimpft hätte. Sie hatte immer ein offenes Ohr für ihre Probleme. Auch wenn ihre Eltern mit ihrer Sensibilität wieder mal überfordert waren und es zuhause Streit gab.

 

Hochsensibilität - Serie - Teil 2
© pixabay

»Viele Hochsensible können
mit viel Lärm, Menschenansammlungen
und Smalltalk nur schwer umgehen.«


 

Nach und nach kamen einige Cousinen und Cousins zu Julia und ihrer kleinen Familie und versuchten sich in seichter Konversation. Julia heuchelte Interesse, lächelte, und von außen merkte niemand ihren innerlichen Kampf mit den Gefühlen. Nur Manuel bemerkte ihre roten Wangen und die kalten, zitternden Hände, die er von Zeit zu Zeit unterm Tisch drückte. Marie hatte nur hin und wieder den Kopf aus Julias Nacken gehoben, obwohl ein paar Kinder sie zum Spielen aufgefordert hatten. Auch sie spürte die dicke Luft im Raum und auch Julias Anspannung.

 

Wenn auch das Kind hochsensibel ist...

Schon die Einladung, die vor zwei Monaten ins Haus flatterte, verursachte bei Julia Magenschmerzen. Nicht nur wegen der Geschichte mit den Verwandten, auch weil ihr schon seit jeher vor solchen Veranstaltungen graute. Und sie dachte auch an Marie. Denn die Vierjährige war wie sie sehr empfindsam und brauchte nach solchen Ereignissen meist lange, um die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Lärm und viele Menschen stressten sie.

 

Schon als Baby wachte Marie bei jedem leisen Knarren der Bodendielen auf. Julia spürte instinktiv, dass Marie viel mehr Nähe brauchte, als andere gleichaltrige Babys. Sie blickte oft neidisch auf das Baby ihrer Freundin. Connys Sohn hatte von Anfang an fast durchgeschlafen und schien auch tagsüber einen schier unerschütterlichen Schlaf zu haben, egal ob es plötzlich an der Haustür klingelte, das Licht im Zimmer aufgedreht wurde oder der Hund bellte. Marie nahm dagegen jede Kleinigkeit wahr. Als sie noch nicht sprechen konnte, reagierte sie auch sofort auf jede kleinste Veränderung des Tagesrhythmus. Beim Essen vertrug sie viele Dinge von Anfang an nicht, was ihr oftmals schlaflose Nächte wegen Bauchkrämpfen verursachte.

Hochsensibilität - Serie - Teil 2
© pixabay

 

Aber die vielen Glücksmomente mit Marie rührten sie manchmal zu Tränen. Sie erinnerte sich an diesen Moment beim Essen, als Marie plötzlich wie aus dem Nichts von ihrem kleinen Kinderstuhl aufsprang und zum Fenster lief. Sie hatte an der Fensterscheibe einen kleinen Marienkäfer entdeckt und war so aufgeregt, dass sie nicht weiter essen konnte, bevor Julia ihn nicht in die Freiheit entlassen hatte. Auch der Anblick, als sie sich auf dem Sofa an Georgie, ihrem kleinen Cavalier King Charles Spaniel kuschelte, sanft ihre kleinen Händchen in sein Fell grub und ihm leise etwas zuflüsterte. Oder die Abende, an denen Marie beim Vorlesen im Bett sanft ihre kleinen Finger in Julias Hand schiebt und sagt: „Mami, ich habe dich sooo lieb, bis zum Mond und noch ganz viel weiter.“

 

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Buchtipps:

Orchideen oder Löwenzahn 
(Thomas Boyce) 

Das hochsensible Kind 
(Elaine N. Aron) 

Hochsensible Eltern 
(Elaine N. Aron)  

🌐 www.hochsensitiv.net

Typische Reaktionen einer Hochsensiblen.

Die Reaktionen von Julia sind für hochsensible Personen nicht ungewöhnlich. Ihr Körper reagiert auf den Stress, dem sie durch die Überstimulation mit Reizen ausgesetzt war. Viele Hochsensible können mit viel Lärm, Menschenansammlungen und Smalltalk nur schwer umgehen. Ihr neuronales System im Gehirn muss zu viele Dinge auf einmal verarbeiten. Hinzu kamen bei Julia noch die emotionale Belastung durch die Vorgeschichte und die Anfeindungen aus der Familie.

 

Hochsensible sind normalerweise sehr harmoniesüchtig, jeder schwelende oder auch vergangene Konflikt hinterlässt Spuren. Meistens suchen sie Fehler zuallererst bei sich selbst und geben sich die Schuld. Sie wollen es jedem recht machen und können deshalb schwer „Nein“ sagen. Sie wissen, wie schlecht es ihnen bei direkten Angriffen und Konfrontationen geht und vermeiden solche Situationen gerne. Das wirkt sich dann auch auf ihre Kommunikationsfähigkeit aus. Durch den erhöhten Adrenalinausstoß befindet sich der Körper ständig im „Angriff-oder-Flucht“-Modus.

 


Alle Funktionen konzentrieren sich auf die Körpermitte. Hände und Zehen werden kalt und es kommt zu einer Erhöhung von Atemfrequenz, Herzschlag und Schweißproduktion. Das bedeutet auch, dass es in solchen Stressmomenten für sie kaum möglich ist, klare Gedanken zu fassen. Ihre sonst so stark ausgeprägte Empathiefähigkeit und Intuition verweigern in solchen Situationen ihren Dienst.

 

Eine wunderschöne, bereichernde Beziehung.

Elaine N. Aron sprach bereits in ihrem Buch „Das hochsensible Kind“ darüber, welche herausfordernde Zeit es sein kann, wenn hochsensible Eltern ein hochsensibles Kind zu erziehen haben. Aber auch, dass daraus eine wundervolle Beziehung entstehen kann. Hochsensible Kinder können profitieren, wenn ihre Eltern auch hochsensibel sind. Denn auch wenn die Eltern nicht über ihre eigene Hochsensibilität Bescheid wissen, handeln sie meist intuitiv richtig, weil sie spüren, welche Bedürfnisse ihr Kind hat.

 

Silvia Wagner

ist Psychologische Beraterin, Berufs- und Bildungsberaterin, Studierende der Bildungswissenschaft und Psychologie,
ist verheiratet, Mutter einer erwachsenen Tochter, hat zwei Hunde und liebt das Meer, das Schreiben, die Natur und Musik.


Wenn sich Eltern ihres eigenen Wesensmerkmals bewusst sind und es selbst als Bereicherung wahrnehmen, können sie dem Kind ein wunderbares Vorbild im Umgang mit der Hochsensibilität sein. Aber auch eine Beziehung, in der die Eltern selbst nicht hochsensibel sind, kann bereichernd sein, wenn die Eltern gezielt und entspannt Gegenmaßnahmen zur Übererregung setzen. Wie Thomas Boyce, ein bekannter Kinderpsychologe, schon sagte: „Hochempfindsame Kinder sind wie Orchideen, die in einem wohlmeinenden Umfeld zu wunderschönen Pflanzen heranwachsen.“

 

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