Hochsensibel. Was ist das überhaupt?

Von Silvia Wagner | Lesezeit ca. 13:30 Minuten

MODEDIAGNOSE, BESONDERE GABE ODER GAR ERKRANKUNG? Hochsensible Menschen werden in der Gesellschaft oft mit negativen Vorurteilen wie „komisch“ oder „überempfindlich“ belegt. Tatsächlich ist das Nervensystem hochsensibler Personen einfach nur anders konzipiert als das von „Normalsensiblen“. Was ist also dran?

 

Hochsensibilität - Serie - Teil 1
Foto © pixabay.com / Design: Petra Ortner

 

Menschen, die hochsensibel sind, werden im Alltag oftmals mit Sätzen, wie: „Die wollen doch nur Schonung für ihre Zimperlichkeit erwirken!“ oder „Das ist doch nur eine Ausrede, weil sie mit unserer Leistungsgesellschaft nicht klarkommen!“ konfrontiert. Auch als esoterisch angehauchte Menschen, die meinen, besondere Fähigkeiten zu haben, werden sie oft bezeichnet. Eltern wird unterstellt, für ihre Sprösslinge wegen spezieller Empfindlichkeiten eine Sonderbehandlung zu wollen. Alle diese Zuschreibungen deuten auf Unwissenheit und Unverständnis hin und entsprechen nicht der Persönlichkeit von hochsensiblen Personen.

 

Der Wissenschaft zufolge unterscheiden sich hochsensible Personen (HSP) genetisch in ihrer neurologischen Ausstattung vom Rest der Bevölkerung. Neuesten Studien zufolge sind 5 bis 30 Prozent aller Lebewesen in unterschiedlicher Ausprägung von diesem Phänomen betroffen. Ungeachtet, ob Mann oder Frau, beide gleichermaßen. Das bedeutet, dass diese Menschen stärker auf Reize reagieren und diese tiefer empfinden und verarbeiten.


Das Phänomen ist nicht neu

Im Laufe der Evolution gab es diese Minderheit von Menschen schon immer. Allerdings gab es bis zum Ende des letzten Jahrtausends keinen Fachausdruck dafür, denn der Begriff in der heutigen Form wurde das erste Mal in den 1990er-Jahren von der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron geprägt und erforscht. Obwohl die Forschung schon einiges zur Aufklärung beigetragen hat, leiden viele hochsensible Menschen noch immer unter Verurteilungen wie eingangs beschrieben. Da Hochsensibilität in einer konkurrenzorientierten Gesellschaft nicht dem Idealbild entspricht, stoßen HSP immer wieder auf Unverständnis und sehen dieses Merkmal oftmals selbst als Schwäche.

 

Hochsensibilität
© pixabay.com

Besonderes Gefühlserleben

Es war ein eiskalter Wintertag, als Melanie mit dicker Mütze und flauem Gefühl im Magen den langen Flur der Schule in ihrem Heimatort betrat. Für die dritte Klasse der höheren berufsbildenden Schule stand um 7.20 Uhr „Rechnungswesen“ mit dem Klassenvorstand Prof. Kirchner auf dem Stundenplan, und Melanie hatte eine mündliche Prüfung abzulegen. Kirchner, ein großer glatzköpfiger Mittvierziger mit schmalen Lippen und markantem Kinn, war ein Lehrer „der alten Garde“: dominant, überlegen, oberlehrerhaft. Er wusste um seine Macht und wie er sie einsetzen konnte. Ab der ersten Stunde hatte Melanie ein unangenehmes Gefühl bei ihm.

 

»Oh Mann, sei doch nicht immer so empfindlich!«

 

Er war am Anfang des Schuljahres noch recht freundlich, doch mit der Zeit stellte sich heraus, dass er ein paar „Lieblinge“ zu haben schien und manche, die er nicht besonders leiden konnte. Melanie war eine davon. Zum Beispiel holte er sie häufiger als die anderen in unvorbereiteten Momenten zur Aufgabenlösung vor die Klasse. Selbst wenn Melanie seine Erklärungen verstand, so hatte sich spätestens vorne an der Tafel ihre logische Denkfähigkeit in Luft aufgelöst. Ohne ein einziges Wort herauszubringen, liefen ihre Wangen knallrot an. Das resultierende Minus im Klassenbuch entlockte Kirchner ein verstohlenes Lächeln.

 

Hochsensibilität - Schmetterling - Falter auf Blume
© Silvia Wagner

Die Schönheit der Natur

kann Hochsensible zu Tränen rühren.


Wenn er Melanie mit hochgezogenen Augenbrauen und stechenden Augen durchbohrte und mit gepresster Stimme ihren Namen rief, lief ihr ein Schauer über den Rücken. In seiner Gegenwart schienen ihre Finger zu erfrieren und sie fühlte sich emotional entblößt. Nackt, so als hätte sie jegliche Schutzhülle abgelegt. An manchen Tagen schritt er polternd mit am Rücken verschränkten Armen durch die Tischreihen und blieb abrupt vor einem Schüler stehen, um ihn mit unvorhergesehenen Fragen zu überraschen. Dabei runzelte er seine hohe Stirn und Melanie hatte das Gefühl, er würde in ihnen nur Insekten sehen, die er mit Vorliebe zertreten würde. Machte er das bei ihr, fühlte sie sich ausgeliefert und schutzlos – und ihre Stimme versagte. Wenn die Stimmbänder doch etwas zutage brachten, dann war es entweder falsch oder kaum hörbar. Melanies Noten waren so schlecht wie noch nie.

 


Probleme mit Veränderungen

Noch nie zuvor fühlte sie sich von einem Lehrer so abgelehnt. In der Hauptschule war sie richtig gut und ging gern zur Schule, lernte leicht. Doch die Veränderung durch den Schulwechsel, der Verlust ihrer Schulfreunde, ihrer ersten Liebe und der vertrauten Umgebung machten ihr zu schaffen. Obwohl ihre Freundin Gabi mit ihr in die neue Schule ging, fühlte sie sich so einsam wie niemals zuvor. Sie vermisste alles aus der alten Schule, die freundlichen Farben in den Klassenräumen, den Geruch von frisch gekochten Mahlzeiten, der aus der Schulküche bis ins zweite Stockwerk drang und die großen lichtdurchfluteten Pausenräume mit den hohen Fenstern und Bildern aus dem Kunstunterricht.

Die neue Schule war kahl und kalt und fremd. Es roch sogar kalt, fremdartig und ungemütlich.

 

Gefühl des kollektiven Unverständnis und Selbstzweifel

Melanie besuchte diese Schule vor allem ihrem Vater zuliebe. Er meinte, dass sie später in einem Amt einen sicheren Job bekommen würde. Ihr Ziel war es, Tierärztin zu werden, doch sie konnte sich zu diesem Zeitpunkt unmöglich vorstellen, irgendwo in einem fremden Internat weit weg von zuhause zu wohnen. Allein der Gedanke war unerträglich. Obwohl sie versuchte, ihre Eltern nicht zu enttäuschen, gelang ihr das meistens nicht und es gab oft Streit. Sie wussten mit ihrer empfindsamen Art nicht umzugehen und waren damit schon immer überfordert. Melanie zog sich deshalb meistens nach der Schule mit ihren Büchern in ihr Zimmer zurück oder ging mit ihrem Hund im Wald spazieren. Das waren ihre „Zufluchtsinseln“, die ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.

 

»Was stimmt nicht mit mir?«

 

Auch ihre Freundin Gabi konnte ihre Probleme in der Schule nicht nachvollziehen. Im Gegensatz zu Melanie fühlte sie sich sehr wohl dort. Sie sagte sogar einmal zu ihr: „Oh Mann, sei doch nicht immer so empfindlich!“ Und da niemand Melanies Gedanken und Schwierigkeiten verstand, glaubte sie natürlich, es müsse an ihr liegen.

 

Schlechtere Leistungen bei Überstimulation und unter Beobachtung

Als Melanie an besagtem Tag die Klasse betrat, waren die anderen Schüler bereits da. Die Prüfung stand an, weil sie den letzten Test wegen Grippe versäumt hatte. Sie hatte fleißig gelernt und wollte endlich wieder an alte Leistungen anknüpfen. Am Tag davor hatte sie ein gutes Gefühl dafür. Sie musste nur ihre Nervosität und Angst in den Griff bekommen. Ihren zitternden Körper sollte keiner bemerken. Mit gesenktem Kopf ließ sie sich so schnell wie möglich auf ihren Stuhl in der vorletzten Reihe nieder. Ihr Blick fiel auf Carmen in der ersten Reihe. Sie wusste, dass sie sie nicht mochte: „Oh Mann, Carmen lästert schon wieder über mich und wartet wahrscheinlich schon darauf, dass ich mich wieder blamiere.“

 

Inmitten des Stimmengewirrs ihrer Mitschüler kramte sie ihre Schulsachen hervor, was sie für einige Minuten beruhigte. In diesem Moment betrat Prof. Kirchner den Klassenraum. Es war, als würde ein riesengroßer schwarzer Felsbrocken mit Donnergrollen das gesamte Klassenzimmer in Beschlag nehmen, alles unter sich begraben und direkt auf ihrer Brust zu liegen kommen. Der Geruch seines Rasierwassers drang bis in die vorletzte Reihe und löste in ihr Brechreiz aus. Ihr Herzschlag schien zu pausieren und sie vergaß, zu atmen.

 

Hochsensibilität - Serie Teil 1
© pixabay.com

Hochsensible Personen haben ein reichhaltiges Innenleben.


Alle standen zur Begrüßung auf, dann setzte er sich an den Schreibtisch und schlug das Klassenbuch auf. Er ging die Anwesenheit aller Schüler durch und schäkerte mit Carmen in der ersten Reihe. „Natürlich mag er Carmen. Im Gegensatz zu mir ist sie klug, souverän, hübsch und selbstsicher und hat nur gute Noten. Außerdem ist sie die Tochter einer bekannten Geschäftsfamilie in unserer Stadt. Und ich? Klein, hässlich und unbedeutend. Und ich bringe den Mund nicht auf vor lauter Aufregung. Er muss ja denken, dass ich stockdumm bin.“

 

Neid, Wut und Trauer schienen Melanie zu überwältigen. Kirchner wandte seinen Blick in ihre Richtung: „Fräulein Melanie, haben wir heute nicht eine Verabredung?“ und zog die rechte Augenbraue hoch. Ihr Herzschlag beschleunigte, ihr Reptiliengehirn forderte die Flucht. Ihr gesamter Blutkreislauf konzentrierte seine Arbeit auf die Körpermitte und den Kopf. Da Flucht nicht möglich war, verfiel sie in eine Art Schockstarre. Aus ihren Händen und Füßen entwich jegliches Blut und sie wurden eiskalt, während sich auf ihrer Stirn Schweißperlen sammelten, als sie nach vorne zur Tafel ging.

 

»Hochsensible Personen können von schöner Musik zu Tränen gerührt werden.«

 

„Naja, dann schauen wir mal, ob sie mir ein paar Buchungssätze sagen können“, räusperte sich Prof. Kirchner. Bei der ersten Aufgabe geriet sie kurz ins Straucheln, aber dann konnte sie ein paar Aufgaben gut lösen. Sie entspannte sich. Bis sie in seine versteinerte Miene sah und ein riesiger Kloß in der Kehle ihre Stimmbänder blockierte und ihren Gedanken jeglichen Weg nach außen versperrte. Kein logischer Gedankengang hatte eine Chance durchzukommen. Nach einer gefühlten Stunde, die aber nur Minuten dauerte, war die Prozedur zu Ende. „Naja, Rechnungswesen ist wohl eine Nummer zu groß für Sie. Ungenügend!“ waren seine genervten Schlussworte.

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Vortragsreihe

von Silvia Wagner zum Thema Hochsensibilität:

  • 19. April 2023, 18 Uhr: Was Sie schon immer über Hochsensibilität wissen wollten.
  • 3. Mai 2023, 18 Uhr: Hochsensibilität in der Partnerschaft.
  • 24. Mai 2023, 18 Uhr: Hochsensible Eltern und Kinder.

TAMAYA Sport- und Gesundheitszentrum
Neudorf 6, 3335 Gaflenz
25 Euro je Vortrag; Tickets und Details: 0699 11 663 984, praxis@loesungsperspektiven.at

Tränen stiegen in die Augenwinkel, aber sie musste sich zusammenreißen und durfte auf keinen Fall weinen. Mit zusammengepressten Lippen und knallroten Wangen lief sie aus der Klasse und schaffte es gerade noch zur Toilette. Dort angekommen, gab es kein Halten mehr und ein Weinkrampf überfiel sie. Wie ein Schwertkampf tobte es unter ihrer Schädeldecke. Dazu schien eine brennende Feuerglut den massiven Stein auf ihrer Brust zu umhüllen. Als es zur Pause klingelte, schlüpfte sie so unauffällig wie möglich in die Klasse, holte ihre Sachen und flüsterte Gabi zu, dass es ihr nicht gut ging. Zuhause angekommen, kroch sie unter die Bettdecke und fiel sofort in einen unruhigen, von kreisenden Gedanken durchdrungenen Schlaf.

 

Vermehrte Selbstkritik und Schamgefühle

„Ich schäme mich so. Was habe ich mir nur dabei gedacht, in diese Schule zu gehen? Ich bin doch viel zu empfindlich, zu naiv und dumm. Warum bin ich so nervös, dass ich nicht mal ein Wort rausbringe? Und warum merke ich mir plötzlich nichts mehr? Warum gerät meine ganze Welt aus den Fugen? Warum schaffe ich es nicht, wie die anderen Schüler zu sein? So wie Tom, der oft einfach eine freche Antwort rausschleudert und dem es komplett egal ist, ob der Lehrer schimpft oder nicht, ob er ihn mag oder nicht. Oder Julia, die einfach danach lacht und sagt, ist mir doch egal, was der von mir denkt. Warum gelingt mir das nicht? Warum versteht mich niemand? Was stimmt mit mir nicht?“

Foto © Lisa Wagner

Zur Person

Silvia Wagner
ist diplomierte Psychosoziale Beraterin in eigener Praxis, Bildungs- und Berufsberaterin und selbst eine hochsensible Person (HSP). Die Waidhofnerin ist verheiratet, Mutter einer erwachsenen Tochter und besitzt zwei Hunde. Ihre eigenen Erfahrungen als HSP, die Erfahrungen mit HSP in der Familie und mit HSP als Klienten möchte sie mit Nicht-HSP teilen und so zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen.

Nähere Infos und
Online-Tests zur Hochsensibilität:

Silvia Wagner
Psychosoziale Beratungspraxis (Beratung und Coaching), 0699 11 663 984, praxis@loesungsperspektiven.at

Test für Hochsensibilität:

Online testen

Zart besaitet: Verein zur Förderung hochsensibler Menschen.

www.zartbesaitet.net

Als Melanie erwachte, hatte sie über 39 Grad Fieber und ihre Eltern machten sich große Sorgen. Auch nach einer Woche zeigten sich außer dem Fieber noch immer keine weiteren Symptome. Der Arzt wusste nicht genau, woran sie litt, bis er ihre Eltern danach fragte, ob sie in letzter Zeit vielleicht großen seelischen Belastungen ausgesetzt gewesen war.

 

Hochsensibilität verstehen

Melanies Geschichte bietet einen kleinen Einblick, wie ein hochsensibler Mensch auf Gefühls- und Körperebene in einer belastenden Situation reagieren kann. Das heißt aber nicht automatisch, dass alle hochsensiblen Menschen gleich empfinden, denn die Ausprägungen sind sehr unterschiedlich. HSP erleben nicht nur negative Empfindungen intensiver, sondern auch positive, wie zum Beispiel Liebe und Freude. So können sie zum Beispiel vom Anblick einer aufblühenden Knospe, einem Sonnenuntergang, dem Klang eines weinenden Cellos oder einem schönen Gemälde emotional so berührt sein, dass sie zu weinen beginnen.

 

Fakt ist, dass die besondere Empfindsamkeit von HSP eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellt. Um als HSP zu lernen, dieses Wesensmerkmal als Stärke zu erkennen, ist es in einem ersten Schritt wichtig, es zu erkennen und sich darüber zu informieren. Als zweiten Schritt gilt es, die Hochsensibilität in das eigene Leben zu integrieren. Je mehr man als HSP darüber weiß, desto besser kann man seine eigenen Gefühle und Reaktionen verstehen und damit umgehen. Auch normalsensiblen Menschen fällt es dann meistens leichter, Verhaltensweisen von HSP nachzuvollziehen.

 

Hochsensible sind naturgemäß anfälliger für Stress als Normalsensible und leiden dadurch auch schneller unter schädlichem Dauerstress. Besonders wichtig für sie ist es deshalb, einen guten Ausgleich zum reizüberfluteten Alltag zu schaffen und ihre eigenen Grenzen kennenzulernen. Hilfreich können dabei Sport und Achtsamkeitsübungen sein, und auch, sich von einem Coach, der mit Hochsensibilität vertraut ist, einige Zeit oder bei belastenden Situationen begleiten zu lassen.

Quellen:

  • ARON, E. A. (2011): Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen.
    mvg Verlag München.
  • ARON, E. N. (2014): Hochsensible Menschen in der Psychotherapie. Junfermann Verlag, Paderborn
  • HENSEL, U. (2015): Hochsensible Menschen im Coaching. Was sie ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt. Junfermann Verlag, Paderborn.